Newsticker
Schlagzeilen, Meldungen und alles Wichtige
Die Nachrichten heute: Newsticker, Schlagzeilen und alles, was heute wichtig ist, im Überblick.
Zum Newsticker
  1. Home
  2. Print
  3. WELT AM SONNTAG
  4. Kultur
  5. "The Edge": Rechthaberei ist auch keine Lösung

Kultur "The Edge"

Rechthaberei ist auch keine Lösung

Freier Autor
Jedes Jahr stellt der Wissenschaftler-Club "The Edge" eine Frage. 2011 soll ergründet werden, was dem Menschen zur Erkenntnis noch fehlt

Wenn die Theorie des "Multiversums" stimmt, dann gibt es mindestens ein Universum, in dem wir nicht sterben. Denn das Konzept geht davon aus, dass jedes mögliche Universum tatsächlich auch entstehen muss - darunter Universen, in denen die Ärzte schon zu unseren Lebzeiten den Tod besiegt haben. Dass wir in unserem Universum sterben, ist zwar ärgerlich, aber nicht das Ende der Welt. Das ist die Antwort des Psychologen Nicholas Humphrey auf die diesjährige "Edge"-Frage: "Welches wissenschaftliche Konzept würde die kognitiven Fähigkeiten aller Menschen verbessern?"

In jedem Jahr stellt der Literaturagent John Brockman seinen Autoren und intellektuellen Freunden eine Frage, auf die sie in beliebiger Länge in Brockmans Online-Magazine "The Edge" (www.edge.org) antworten können. Brockman bezeichnet sich als Erfinder der "Dritten Kultur", die den Abgrund zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften überbrücken will. Zu seinem Autorenstall gehören viele auch hierzulande bekannte Leuchten der Populärwissenschaft wie Richard Dawkins, Daniel Dennett, Freeman und George Dyson (um nur den Buchstaben "D" anzuführen); an die neunzig Autoren haben in diesem Jahr Antworten auf die Frage eingesandt.

Schon ein kursorischer Überblick über die Themen zeigt, wie wenig die elementaren Werkzeuge naturwissenschaftlichen Denkens in den politischen und feuilletonistischen Diskurs Einzug gehalten haben. Wer begreift schon solche grundlegenden Konzepte wie Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit, Zufall und Vorhersehbarkeit? Wie oft wird Überzeugung mit Wirklichkeit, Anekdote mit Beweis verwechselt! Wie selten spielen wissenschaftliche Methoden wie das Experiment - und sei es nur das Gedankenexperiment - bei politischen Entscheidungen und ihrer Bewertung eine Rolle! Und wann hat man aus dem Mund eines Politikers oder Journalisten den Satz gehört: "Mein Standpunkt wäre zu widerlegen, indem man ..."? Ohne diesen Zu-Satz, wie der große Karl Popper meinte, kann keine Theorie den Anspruch erheben, wissenschaftlich zu sein. Freilich ist er ebenso wenig bei Redakteuren gefragt, die möglichst "steile Thesen" und Angriffe auf den "Mainstream" lesen wollen, wie bei Politikern, die "prinzipienfest" erscheinen müssen, oder religiösen Dogmatikern, die gegen die "Diktatur des Relativismus" wettern.

Wer es gern eine Nummer weniger grundsätzlich hat, wird auch bei "The Edge" fündig. Der Neurowissenschaftler Terrence Sejnowski etwa macht sich Sorgen über das Schwinden der Fähigkeit, sich Größenordnungen vorzustellen - etwa die Bedeutung von Potenzen. (Wie viele Sekunden enthält ein Leben? 10 hoch 9. Wie viele Sekunden wird die Sonne noch scheinen? 10 hoch 17) Mit einem fehlenden Verständnis für mathematische Größen und Rechenoperationen geht, wie Keith Devlin von der Stanford University zeigt, oft ein falsches Risikoverständnis einher. So machen sich viele Menschen Sorgen wegen des Krebsrisikos durch die an Flughäfen neu eingeführten Nacktscanner. Tatsächlich ist das Risiko nicht höher als das Risiko für einen Europäer oder US-Bürger, durch einen Terrorangriff zu sterben - nämlich verschwindend gering. Was nicht heißt, dass man auf Nacktscanner oder Anti-Terror-Maßnahmen verzichten sollte.

Auch Gerd Gigerenzer, Psychologe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und einer der wenigen deutschen Wissenschaftler, die sich an der "Edge"-Diskussion beteiligen, hält die meisten Menschen (einschließlich der sogenannten Experten) für Analphabeten, wenn es um die Einschätzung von Risiken geht. Darum verlangt er eine "Risiko-Erziehung" der Bürger, beginnend mit einer Behandlung der Mathematik der Unsicherheit - also der Statistik - in der Schule, und zwar nicht "in Form von Münze- und Würfel-Problemstellungen, die Schüler zu Tode langweilen", sondern in Bezug auf die Risiken von "Alkohol, Aids, Schwangerschaft, Pferdereiten und anderen gefährlichen Dingen".

Dass viele Menschen vor gefährlichen Dingen zu wenig, vor weniger gefährlichen Dingen zu viel Angst haben, hängt, wie Tom Standage vom "Economist" zeigt, letztlich auch mit dem mangelnden Verständnis wissenschaftlichen Denkens zu tun. Man kann nämlich beweisen, dass etwas gefährlich ist, aber nie beweisen, dass es absolut sicher ist.

Wer also "Beweise" etwa für die Unbedenklichkeit technischer Neuerungen verlangt, geht genauso in die Irre wie jene Kritiker des Darwinismus, die auftrumpfend darauf hinweisen, dass selbst Darwinisten "nur von einer Theorie" reden, die jederzeit - etwa durch die berühmten fossilen Kaninchen im Präkambrium - widerlegt werden könnte. Sicherheit und Wissenschaftlichkeit schließen einander aus.

Diese Einsicht und ihre Folgen fasst Carlo Rovelli, Physiker an der Universität Aix-Marseille und Biograf des "ersten Naturwissenschaftlers" Anaximander, wie folgt zusammen: "Die Unfähigkeit, den Wert des Mangels an Gewissheit anzuerkennen, liegt einem Großteil der Dummheit in unserer Gesellschaft zugrunde. Sind wir sicher, dass sich die Erde immer weiter aufheizen wird, wenn wir nichts dagegen unternehmen? Sind wir sicher, dass alle Details der gegenwärtigen Evolutionstheorie stimmen? Sind wir sicher, dass die moderne Medizin immer besser ist als die traditionelle? Nein, das sind wir nicht, in keinem dieser Fälle. Aber wenn wir aus dem Mangel an Gewissheit den Schluss ziehen, dass wir uns lieber nicht um den Klimawandel kümmern sollten, dass es keine Evolution gibt und dass die Erde vor 6000 Jahren erschaffen wurde, oder dass die traditionelle Medizin effektiver sein muss als die moderne Medizin, sind wir einfach blöd. Aber viele Menschen ziehen diese Schlüsse, weil der Mangel an Gewissheit als Zeichen der Schwäche gesehen wird und nicht als das, was er ist: die wichtigste Quelle allen Wissens."

In einer Zeit, da Studien Konjunktur haben, die "wissenschaftlich" beweisen, dass bestimmte Gruppen von Menschen intelligenter sind als andere (Thilo Sarrazin hält muslimische Zuwanderer für weniger intelligent als Deutsche, während andere Untersuchungen zeigen, dass Linke intelligenter sind als Rechte), mögen Konservative und Multikulti-Freunde sich ermuntert fühlen durch Matt Ridleys Feststellung, dass die individuelle Intelligenz oder die Intelligenz von Untergruppen für das Wohl einer Gesellschaft relativ unwichtig sind. Entscheidend sei die "kollektive Intelligenz", meint Ridley; die sei nicht einfach die Summe der individuellen Intelligenzquotienten, sondern eine Funktion der Vernetzung, Arbeitsteiligkeit und Offenheit einer Gesellschaft.

Was schon Adam Smith und Karl Popper wussten. Schade, dass wir nicht jenes Paralleluniversum bewohnen, in dem sie noch leben.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant