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Meinung Schulden-Krise

Vertrieben aus dem europäischen Schlaraffenland

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Francois Hollande als Souvenir Francois Hollande als Souvenir
Der französische Präsident Francois Hollande - als Souvenir. Nicht der Programmatiker Hollande wurde gewählt, sondern der enttäuschende Staatsturner Sarkozy abgewählt
Quelle: AFP
Als Zugewinngemeinschaft auf Pump war die EU ein Erfolgsmodell. Damit ist es nun vorbei. Das ist aber kein Grund für Pessimismus. Jetzt kann Europa beweisen, dass es Wachstum auch ohne Schulden gibt

Das vergangene Wochenende hat Europa dem roten Bereich bedrohlich nahegebracht. Die Präsidentenwahl in Frankreich und die Parlamentswahl in Griechenland haben exemplarisch gezeigt, dass der Euro scheitern und die EU zu einem windschiefen Haus werden kann.

Das hat zumindest einen Vorteil: Gut, dass es heraus ist. Konnten wir wirklich glauben, ganz Europa würde die Rosskur, die unter Führung von Deutschland und Frankreich verordnet worden ist, widerspruchslos hinnehmen?

Wer das denkt, beweist, dass er keine hohe Meinung von Europas Bürgern hat und dass er die EU als Überrumpelungsveranstaltung sieht. Denn selbst wenn es gut gegangen wäre, wäre das kein Erfolg: In den kommenden aufgewühlten Jahren braucht Europa wache Bürger. Dass sie aufschreien, wenn es wehtut, schadet nicht.

Französischer Präsident als Ergebnis der Germanisierung

Europa ist groß und voller Ungleichgewichte. Diesmal haben der EU ein großes Land ein vergleichsweise kleines und ein ziemlich kleines Land ein sehr großes Problem beschert. Frankreich hat den netten Monsieur Hollande gewählt.

Wenn man bedenkt, welche Germanisierung Frankreichs sein quecksilbriger Vorgänger Sarkozy den Bürgern zugemutet hat, kann das Ergebnis nicht erstaunen.

Konnte man wirklich glauben, eine Schuldenbremse würde in Frankreich, wo die allkompetente Staatsmacht seit 1789 fast religiös überhöht wird, im ersten Anlauf durchgehen? Frankreich, das war immer auch der Sieg des souveränen Staates über die rechnerische Vernunft, des pompösen Willens über die nackten Zahlen.

Hollande wird nach der Wahl ein anderer sein als davor

Indes, von Hollandes Wahl, knapp gewonnen, geht keineswegs ein Aufbruchssignal aus. Nicht der Programmatiker Hollande wurde gewählt, sondern der exzentrische und im Ergebnis enttäuschende Staatsturner Sarkozy wurde abgewählt.

Und was zuvor schon zu ahnen war, ist nun sicher: Hollande wird nach der Wahl ein anderer sein als davor, und er wird dafür anders als sein sozialistischer Amtsvorgänger Mitterrand weit weniger als zwei Jahre brauchen: weil die Zeit drängt und die großen ideologischen Schlachten längst geschlagen sind.

Ohne den populären Unmut der Franzosen zu bedienen, wäre er nicht Präsident geworden.

Im Dialog entsteht das bessere Europa

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Nun muss er – ein französischer Schröder – den Franzosen erklären, dass er nicht kann, wie er – der eigentlich rechte Sozialdemokrat – zu wollen vorgab. Gerade die, die zweifeln, dem steifen Wind der Wirklichkeit aussetzen: Das war immer schon eine gute Methode, aus verfahrenen Situationen herauszukommen.

Sarkozy hat, mit Angela Merkels freundlicher Unterstützung, den Franzosen Europas neue Sparphilosophie vorgeknallt. Nun sitzt im Führungstandem der EU einer, der nicht austeritätsimprägniert ist.

Man sollte darin einen Vorteil, zumindest eine Chance sehen für einen übernationalen Lernprozess. Nicht "alternativlos", sondern dialogisch und im Streit entsteht das bessere Europa.

Griechen verweigern das Rendezvous mit der Wirklichkeit

Griechenland dagegen hat der EU ein richtig großes Problem geschaffen. Mehr als 70 Prozent der Wähler dort haben gegen die EU und ihre Gebote gestimmt und das Land ganz nah an den Abgrund geschoben.

Es hat schon etwas von einem Menetekel, dass sich die Bürger des Landes trauen, das Rendezvous mit der Wirklichkeit schlicht zu verweigern. Das zeigt, dass die Staatsräson der EU längst nicht überall zu vermitteln ist.

Auch deswegen nicht, weil die EU als eiserne Spargemeinschaft, als Verzichtsunion wenig Attraktives hat.

Das Dilemma der Sparpolitik

Das Dilemma liegt auf der Hand: Ohne eine Politik strikter Schuldenreduzierung wäre das einstige Hoffnungsprojekt EU verloren und gescheitert. Deswegen hat Angela Merkel recht, wenn sie allen Anfeindungen zum Trotz in dieser Frage durch nichts zu erweichen ist.

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Doch bekommt die Sparpolitik, bleibt es nur dabei, einen monomanischen Zug. Erkennbar fehlt etwas.

Auch wenn eine Aufgabe von Politik in der Reduktion von Komplexität besteht, kann man mit einer einzigen Idee am Ende doch nicht reüssieren. Die Griechen erleben ja gerade am eigenen Leib, dass ihnen selbst dann nicht geholfen wäre, wenn sie alle Sparforderungen der EU erfüllten.

Sparen ist nicht einmal das halbe Leben

Es gilt ja zweierlei: Nach dem Ende der gesamteuropäischen Wachstumsphase, in der das Pumpen nicht weiter auffiel, ist nun die Entschuldung der Staaten zu einer Überlebensfrage geworden. Andernfalls würde weiterhin die Gegenwart die Zukunft erwürgen.

Es gilt aber auch, dass Sparen allein keine Motoren anwirft, keine Findigkeit freisetzt. Sparen ist nicht einmal das halbe Leben. Es beendet den Selbstbetrug, es schafft Voraussetzungen – nicht mehr, nicht weniger.

Jörg Asmussen, Schlaumeier und Direktoriumsmitglied der EZB, hat gesagt, es sei wohl falsch gewesen, mit den Griechen nur übers Sparen und zu wenig über "wachstumsfördernde Strukturmaßnahmen" gesprochen zu haben. Wohl wahr.

Hier gibt es viel nachzuholen, und auch die Staatshausfrau Angela Merkel wird dabei mit von der Partie sein. Ihr ist es zu verdanken, dass die Alternative "Sparen oder Ankurbeln" vom europäischen Tisch ist. Alles, was nun in Angriff genommen wird, setzt eine strikte Sparpolitik voraus.

Linke darf aus Europa keinen Schuldenturm machen

Dann aber geht es wirklich um etwas Neues: um wirtschaftliche Innovations- und Anreizverfahren, die nicht in die Falle des Keynesianismus laufen. Und um die Anerkennung der Tatsache, dass es ein unitarisches Europa, geformt im Geist deutscher Betriebsamkeit, weder geben kann noch soll.

Hier ist Europas Linke – vor allem Hollande und die SPD – gefordert. Sie muss, will sie verantwortungsvoll sein, der Versuchung widerstehen, Anleihen ausgerechnet bei der Politik zu nehmen, die aus den Bundesländern, aus der Bundesrepublik und aus Europa einen Schuldenturm gemacht hat.

Die Welt ist nicht auf Vernunft gegründet. Und die Weigerung, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, gehört zu den stärkeren Überlebenskräften der Menschheit.

Die Bürger Europas "möchten lieber nicht"

Konkret und heute: Die Bürgerinnen und Bürger, die Marine Le Pen oder Geert Wilders ihre Stimme geben; die in Griechenland rechts- oder linksradikale Fantasten ins Parlament hieven; die in Italien die "Fünfsternepartei" des Komikers Beppe Grillo wählen, der den Austritt aus dem Euro empfiehlt und einen "Vaffanculo-Day", einen "Leck-mich-am-Arsch-Tag", initiiert hat; oder die vielen, die die verblüffend banalen und unkundigen "Piraten" fast schon fest im deutschen Parteienspektrum verankert haben – sie alle legen mit wachsendem Selbstbewusstsein und wachsender Selbstverständlichkeit Widerspruch ein gegen den komplexen Lauf der europäischen Angelegenheiten.

Wie der rätselhafte Bartleby bei Herman Melville sagen sie beharrlich und begründungslos und der Kraft des Arguments entzogen: "Ich möchte lieber nicht."

Wie Säure setzt diese Verweigerung dem europäischen Haus zu. Europa hatte seinen einst großen Ruf dem Frieden und der Tatsache zu verdanken, dass es für alle eine schnurrende Zugewinngemeinschaft war.

Jetzt müssen wir, aus diesem Schlaraffenland vertrieben, Europa neu erfinden. Nirgendwo steht geschrieben, dass es nur dort zu leben lohnt, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen.

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