Claus Leggewie über Occupy Wall Street:"Das ist der Widerstand einer gebildeten Mittelschicht"

Ein Konfliktforscher geht protestieren: Wenn die Occupy-Wall-Street-Bewegung in Frankfurt auf die Straße geht, will Claus Leggewie dabei sein. Im Gespräch mit sueddeutsche.de erklärt der Politikwissenschaftler, warum Demos gegen die Finanzmärkte wichtig sind, wie der Kapitalismus unser Leben bestimmt - und warum die Aktivisten ohne Stars auskommen.

Oliver Das Gupta

Claus Leggewie, 61, ist Politikwissenschaftler und Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Seit Dezember 2008 berät Leggewie die Bundesregierung als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen. Sein neues Buch Mut statt Wut - Aufbruch in eine neue Demokratie ist im Verlag Edition Körber-Stiftung erschienen. Das folgende Gespräch fand auf der Frankfurter Buchmesse statt.

Claus Leggewie Mutbürger Occupy Wall Sreet

Mutbürger statt Wutbürger: Claus Leggewie hält Empörung für wichtig.

(Foto: oh)

sueddeutsche.de: Herr Leggewie, in den USA gehen Menschen gegen die Finanzmärkte auf die Straße. Was unterscheidet die "Occupy Wall Street"-Bewegung von anderen Demonstrationen, etwa in Stuttgart gegen S21 oder in Madrid für mehr Demokratie?

Claus Leggewie: In Deutschland haben wir es mit einer hochstrukturierten Öffentlichkeit zu tun, die sich über Wochen und Monate und darüber hinaus organisieren kann. Wenn man sich den Protest vor der Wall Street genau ansieht, haben wir es mit ressourcenschwachen und marginalen Teilen der New Yorker Bevölkerung zu tun. Ich habe lange in New York gelebt und habe dort die höchste Dichte an Marxisten, Sozialisten, Leninisten, Anarchisten, Maoisten und Trotzkisten meines Lebens kennen gelernt.

sueddeutsche.de: Sprich: Man soll die Wirkung dieses Protests nicht überschätzen?

Leggewie: Es geht um den symbolischen Effekt: dass die Wall Street die Gelbe Karte kriegt. Es ist ein Signal, von wem auch immer, das da besagt: Wir sind nicht einverstanden, was da seit Jahrzehnten läuft, und wir fordern Änderung.

sueddeutsche.de: Und wie lautet die?

Leggewie: Wir reklamieren als Zivilgesellschaft eine Ökonomie, die im Herzen des Kapitalismus wie an seinen Rändern dem Glück des Menschen dient und nicht der Selbstbefriedigung des Wirtschaftslebens. Diese great transformation ist exakt das, was der Wirtschaftswissenschaftler Karl Polanyi 1944 beschrieben hat: Er hat den Kapitalismus kritisiert für die Entbettung der Ökonomie aus der Gesellschaft.

sueddeutsche.de: Klingt kompliziert.

Leggewie: Ist es nicht. Es bedeutet: Wir haben keine kapitalistische Wirtschaft - dagegen hätte ich übrigens nichts. Sondern wir haben eine kapitalistische Gesellschaft - dagegen habe ich sehr wohl etwas. Der Kapitalismus strukturiert unser komplettes Leben - bis in die Liebesbeziehungen hinein. Was Occupy Wall Street macht, ist in Sichtweite symbolisch zu sagen: You are under control. Wir haben euch im Blick, wir prangern euch an, ihr kommt nicht ungeschoren davon. Das ist der wesentliche Punkt. In Frankfurt wird das einen ähnlichen Effekt haben.

sueddeutsche.de: Insofern gibt es doch eine ferne Verwandtschaft mit anderen Demonstrationen, etwa in Tel Aviv, Kairo oder Madrid?

Leggewie: In dieser Hinsicht schon. Es ist der Widerstand einer gebildeten Mittelschicht gegen ihre drohende Verelendung durch dieses System. Jetzt kommt die wesentliche Frage: Was ist denn so schlecht an diesem System? Was wir seit Jahren bei der Ausbeutung der Umwelt betreiben, haben wir auch beim Wohlfahrtsstaat gemacht: auf Kosten künftiger Generationen gewirtschaftet. Diese Art von Diskontierung ist aufgeflogen. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung besagt, dass zwei Drittel der Deutschen inzwischen der Leistungsfähigkeit des Kapitalismus stark misstrauen. Das sind Zahlen, die gab es zuletzt in den 1940er Jahren! Das ist das, was sich atmosphärisch verschoben hat.

sueddeutsche.de: Sie kritisieren in Ihrem aktuellen Buch Mut statt Wut eben jene Wutbürger und fordern den Mutbürger. Irren diejenigen, die sich empören?

"Wut und Empörung sind wichtig"

Leggewie: Wut und Empörung sind wichtig. Ich bin auch wütend! Politik ist Leidenschaft und kein rationales Kalkül. Aber diese Emotionen muss man irgendwie zivilisieren und auf institutionelle Füße setzen - auch wenn das anstrengend ist. Es ist wichtig, den zornigen Protest in ein bürgergesellschaftliches Engagement umzuwandeln, das von Dauer ist, das ein Thema hat.

Occupy Wall Street march in New York

Handgreiflichkeiten zwischen Polizisten und Demonstranten in New York: "Politik ist Leidenschaft", sagt Leggewie.

(Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Und was bedeutet das konkret?

Leggewie: Momentan haben wir das große Thema Energiewende: Wir kaufen Elektroautos, wir dämmen unsere Häuser und wir verbrauchen weniger Strom. Es gibt aber Leute, die sagen, das reicht nicht, wir müssen weiter gehen. Das ist nur der Einstieg in eine echte Kulturrevolution. Wir müssen unser Leben ändern.

sueddeutsche.de: Also den großen Wurf wagen. Wie reagiert Otto Normalbürger?

Leggewie: Viele sagen: Oh, das ist mir jetzt aber zu groß und zu kompliziert. Aber das sind Ausreden. Diese Wende besteht aus Tausenden kleinen Partikeln. Überall kann man ansetzen: das Konsumverhalten ändern, das Mobilitätsverhalten ändern, die Betriebshierarchie ändern...

sueddeutsche.de: Was machen Sie persönlich?

Leggewie: Ich habe kein Auto mehr und es geht gut!

sueddeutsche.de: Sie sagen also: Man kann diese Veränderung auffächern. Jeder kann sofort anfangen. Was ist mit den Menschen, die über wenig Geld verfügen?

Leggewie: Auch die können das. Jeder, der sagt, er habe keine Zeit oder keine Ressourcen, liegt falsch. Alles Ausreden! Ich sage nicht, dass die Leute es machen müssen, ich sage nur, dass sie nicht sagen sollen: Es geht nicht. Sie sollen sagen: Ich habe keine Lust, ich will nicht.

sueddeutsche.de: Soll man auch sein Bankkonto auflösen und sich all sein Geld auszahlen lassen?

"Brauchen Sie Bono?"

Leggewie: Nein, da nagelt man einen Pudding an die Wand. Das Beste, was man in dieser Hinsicht tun kann, ist zu protestieren. Und diesen Protest in ein antikapitalistisches Gesellschaftsprojekt zu verwandeln.

sueddeutsche.de: An diesem Samstag heißt es hier in Frankfurt: Occupy! Gehen Sie hin?

Leggewie: Ja, ich habe es vor.

sueddeutsche.de: Können die weltweit geplanten Proteste, die von Occupy Wall Street und den Madrider Indignados inspiriert sind, zu einer echten politischen Kraft werden?

Leggewie: Können sie. Aber nur wenn die Proteste nachhaltiger werden - über das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Man denkt, als Einzelner könne man nichts ausrichten, denn was ist mit all den anderen? Soziale Bewegungen haben am Anfang immer diese Zweifel. Die Ur-Grünen haben es nicht im Traum für möglich gehalten, dass ihre Themen den Mainstream beschäftigen werden. Heute ist es totaler Mainstream. Das Gefühl der Selbstwirksamkeit kommt nur, indem man sich professionalisiert und institutionalisiert.

sueddeutsche.de: Bedeutet das, dass Occupy Wall Street Führungspersönlichkeiten benötigt, um Erfolg zu haben?

Leggewie: Die Medien brauchen Gesichter, ich brauche sie nicht. Brauchen Sie Bono (Sänger der Rockband U2, die Redaktion)? Sie sehen am Beispiel von Madrid und Ägypten, dass Massenbewegungen nicht unbedingt Stars benötigen. Da haben sich alle zurückgenommen.

sueddeutsche.de: Inhalte werden nun mal auch durch Personalisierung transportiert. Der Investor George Soros hat sich beispielsweise auf die Seite von Occupy Wall Street geschlagen.

Leggewie: Da lässt man den Bock zum Gärntner werden, aber das ist okay. Aber mir ist jeder einzelne Paulus lieber, als eine Million Saulusse.

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