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Risiko Kernkraft Sieben deutsche Meiler sind verzichtbar

Die Fukushima-Katastrophe bedeutet eine Kehrtwende in der deutschen Atompolitik. Selbst die Energiekonzerne stellen sich auf einen Stopp der Laufzeitverlängerung ein. Technisch ist sogar noch mehr möglich: Sieben Meiler könnten sofort abgeschaltet werden - ohne dass eine Stromlücke entsteht.
Atomreaktoren: "Das war's"

Atomreaktoren: "Das war's"

Foto: dapd

Hamburg - Der langjährige Branchenexperte Mycle Schneider braucht einen knappen Satz, um die Zukunft der Atomenergie zu beschreiben: "Das war's."

Schneider, der selbst mehrere Male als Berater in Japan war, wertet die Katastrophe von Fukushima als Zäsur für die Atomenergie - weltweit und vor allem in Deutschland, einer besonders atomkritischen Nation.

Er könnte recht behalten. Beim Tschernobyl-GAU 1986 war ein ohnehin umstrittener Sowjet-Reaktor betroffen. Seine Schutzhülle zerbarst, große Mengen Strahlung gelangten in die Umwelt. Der Kraftwerkkomplex Fukushima hingegen befindet sich im Hightech-Land Japan - und hier sind bereits zwei Reaktorblöcke explodiert, in dreien ist die Kernschmelze möglich oder bereits erfolgt, insgesamt gilt für sieben Reaktoren im Land der Ausnahmezustand.

Bislang haben die Schutzhüllen der Reaktoren das Schlimmste verhindert - riesige Nuklearwolken wie nach Tschernobyl sind bisher nicht aufgetreten. Doch der Beton der Schutzhüllen wird mit der Zeit brüchig, es ist unklar, ob die Hüllen einen Strahlungsaustritt dauerhaft verhindern können. Klar ist: Im dicht besiedelten Japan wären die Folgen einer Strahlenkatastrophe um ein Vielfaches schlimmer als nach Tschernobyl.

"Die Laufzeitverlängerung ist politisch nicht länger tragbar"

Die Frage nach der Beherrschbarkeit der nuklearen Technologie wird daher neu gestellt, mit erheblichen politischen Konsequenzen, gerade in Deutschland.

So hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Montag angekündigt, die gerade erst verabschiedete Laufzeitverlängerung wieder auszusetzen. Jeder einzelne der 17 deutschen Meiler soll noch einmal ausgiebig auf Sicherheit überprüft werden - dann soll entschieden werden, was mit ihm geschieht.

Die Energiekonzerne spekulieren hinter vorgehaltener Hand schon über mögliche Folgen für die Branche. "Die Laufzeitverlängerung ist politisch nicht länger tragbar", heißt es in einem Konzern. "Sie dürfte revidiert werden."

Die SPD fordert noch mehr. Die ältesten Kraftwerke müssten sehr schnell vom Netz genommen werden, sagt Parteichef Sigmar Gabriel. Man könne sie sicherheitstechnisch nicht mehr nachrüsten. Es geht ihm vor allem um Meiler wie Brunsbüttel, Isar I und Philippsburg I - denn sie ähneln bautechnisch stark dem japanischen Krisenreaktor Fukushima. Möglicherweise kommt Merkel den Sozialdemokraten auch in diesem Punkt entgegen - allerdings blieb die Kanzlerin am Montag gewohnt vage.

Mehrere Kraftwerke könnten problemlos abgeschaltet werden

Technisch ist es möglich, mehrere Meiler sofort abzuschalten. Atomkraftbefürworter warnen zwar oft vor einer Stromlücke, die angeblich entsteht, wenn man Reaktoren vom Netz nimmt. Doch dafür gibt es keinen Beleg. Im Gegenteil: Eine einfache Rechnung zeigt, dass Deutschland über große überschüssige Kapazitäten verfügt, die für die Stromversorgung gar nicht benötigt werden.

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Foto: SPIEGEL ONLINE

Um festzustellen, wie groß diese Kapazitäten sind, muss man sich anschauen, wann der Strombedarf in Deutschland am größten ist und wie viel Energie dann gebraucht wird. Dieser Wert definiert den maximalen Strombedarf der Bundesrepublik: die sogenannte Spitzenlast.

Es ist wichtig, mit dieser Größe zu rechnen - und nicht etwa mit einem Durchschnittswert. Denn tatsächlich ist der Strombedarf der Bundesrepublik oft sehr viel niedriger - der Kraftwerkpark muss aber in der Lage sein, auch einen plötzlich auftretenden hohen Energiebedarf zu bedienen, um Stromausfälle zu vermeiden.

Das European Network of Transmission System Operators for Electricity (Entsoe) stellt über die Spitzenlast regelmäßig Berechnungen an. Demnach ist der Energiebedarf werktags zur Mittagszeit am höchsten. Die Spitzenlast steigt dann oft auf 80 Gigawatt. Im Jahr 2008 wurde an einem Mittwoch gegen 11 Uhr einmal eine Spitzenlast von 82,2 Gigawatt erreicht.

Erhebliche Überkapazitäten

Doch die deutschen Kraftwerke haben eine viel höhere Kapazität. Sie lag Ende 2009 bereits bei rund 140 Gigawatt, das ist mehr als das Anderthalbfache. Und die Kapazität steigt durch den Ausbau der erneuerbaren Energien immer weiter.

Kapazität deutscher Kraftwerke

Kraftwerkstyp Installierte Leitung
Atomkraft 20,3 Gigawatt
Kohle-, Gas und Diesel 71,3 Gigawatt
Wasserkraft 10,4 Gigawatt
Erneuerbare Energien 37,5 Gigawatt
Gesamt 139,5 Gigawatt
Wert: 31. Dezember 2009, Quelle: Entsoe, Statistical Yearbook, Seite 161

Die installierte Kapazität muss zu Spitzenlastzeiten zuverlässig abrufbar sein. Steigt der Energiebedarf an einem Werktag auf 80 Gigawatt, müssen Kraftwerke diese Strommenge ins Netz speisen können, auch wenn gerade kein Wind weht und die Sonne nicht scheint. Sonst drohen Stromausfälle und damit ein Stopp der Industrieproduktion - sprich: eine Schwächung des Standorts Deutschland.

Erneuerbare Energien entsprechen diesen Anforderungen noch nicht. Sie sind zurzeit noch kein zuverlässiger Stromlieferant. Doch die Tabelle zeigt, dass auch konventionelle Kraftwerke, die durchgehend dieselbe Menge Strom liefern, weit mehr Kapazität haben, als zu Spitzenlastzeiten je gebraucht wird: Kohle-, Gas- und Atomkraftwerke kommen auf mehr als 90 Gigawatt.

Hinzu kommen Wasserkraftwerke - die Strom direkt erzeugen oder ihn nachts zwischenspeichern, so dass er tagsüber zu Spitzenlastzeiten verfügbar ist. Macht insgesamt 102 Gigawatt Kapazität. Biogasanlagen mit einer Kapazität von mehreren Gigawatt, die ebenfalls kontinuierlich Strom bereitstellen können, kommen noch hinzu.

Leistungsschwache Altreaktoren werden im Netz nicht benötigt

Wenn man die 2008 gemessene Rekordspitzenlast von 82 Gigawatt als Ausgangswert für den maximalen deutschen Strombedarf nimmt und noch einmal 15 Prozent - also zwölf Gigawatt - als Puffer für Revisionen und Ausfälle draufschlägt, hätte man noch immer einen enormen Überschuss an Kapazitäten.

Würde man die sieben ältesten Atommeiler, deren Laufzeiten Schwarz-Gelb gerade um acht Jahre verlängert hatte, abschalten, wäre der Ausfall zu verschmerzen.

Leistung älterer deutscher Kernkraftwerke

Kraftwerk Betriebs-start Defekte Netto-leistung in MW
Brunsbüttel 1977 80 771
Isar 1 1979 44 878
Neckarwestheim 1 1976 47 785
Philippsburg 1 1980 39 890
Biblis A 1974 66 1167
Biblis B 1976 78 1240
Unterweser 1978 49 1345
Gesamt 7076
Quelle: Bundesumweltministerium, Bundesamt für Strahlenschutz, IAEA - Power Reactor Information System, Informationskreis KernEnergie

Die sieben Atom-Oldtimer sind vergleichsweise leistungsschwach. Modernere Kraftwerke wie Brokdorf oder Isar II haben eine Nettoleistung von fast 1500 Megawatt - manche Altmeiler kommen nur auf die Hälfte. Insgesamt würde der Verlust der Kapazität sieben Gigawatt betragen (siehe Tabelle).

Steigender Strombedarf? Das ist nicht zu erwarten

Atomkraftbefürworter argumentieren, dass man die Kraftwerke nicht abschalten sollte, da der Energiebedarf der Bundesrepublik stetig steigt - unter anderem durch den Ausbau des Industrieparks und die Umstellung des Verkehrs auf Elektromobilität.

Doch dieses Argument lässt sich wiederlegen. Denn es geht in puncto Netzstabilität weniger darum, ob der Gesamtstromverbrauch - gemessen in Terawattstunden - steigt. Wichtig ist, dass die verfügbaren Kapazitäten hoch genug sind, um auf den Punkt genau eine bestimmte Höchstmenge an Energie - die Spitzenlast gemessen in Gigawatt - bereitzustellen. Dieser entscheidende Wert aber ist seit Jahren kaum gestiegen: Seit 2002 pendelt die Jahreshöchstlast kontinuierlich bei rund 80 Gigawatt.

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Foto: AP/NHK TV

Durch den Ausbau der Elektromobilität könnte dieser Wert mittelfristig zwar steigen - es dürfte aber noch einige Jahre dauern, bis der E-Auto-Markt eine energiepolitisch relevante Größe erreicht haben wird. Bis es soweit ist, dürften zudem auch Technologien zum flexiblen Lastmanagement (Smart Grids) deutlich weiterentwickelt worden sein. Erneuerbare Energien werden dann flexibler einsetzbar sein.

Es ist noch nicht einmal klar, ob der Stromverbrauch insgesamt steigt. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) veröffentlichte kürzlich eine rund 600-seitige Erhebung über die Energieversorgung der Zukunft. Darin werden unter anderem ein halbes Dutzend Studien miteinander verglichen, die sich damit befassen, wie sich der jährliche Bruttostromverbrauch in Deutschland bis zum Jahr 2050 entwickelt.

Aktuell wird der Nettoverbrauch auf 550 Terawattstunden geschätzt. Dies könne auch 2050 so bleiben werde, schreibt der SRU, der direkt den Umweltminister berät. "Das würde stringente Bemühungen zur Energieeinsparung und Effizienzsteigerung für die traditionellen Stromnutzungen voraussetzen." Gleichzeitig könne die Hälfte der aktuellen Verkehrsleistung auf Elektromobilität umgestellt werden.

Mit anderen Worten: Die Energieversorgung bricht bei weniger Atomkraft keineswegs zusammen.