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S.P.O.N. - Der Kritiker Sie nennen es Literatur

Sie wird betrieben wie eine Kleingärtneranlage. Man gießt, man schneidet große oder wilde Blumen zurecht, man liebt es ruhig und übersichtlich, und am liebsten bleibt man unter sich: Die deutsche Literatur ist das letzte Refugium nationalstaatlicher Spießigkeit.

Die Welt muss draußen bleiben. Das lernen Germanisten schon im Studium. Balzac, Flaubert, Proust, Joyce, Fitzgerald, James, Dostojewski, Bassani, da schauen Sie bitte mal einen Schalter weiter: Wir hier machen lieber in Mittelhochdeutsch und Minnegesang.

Und nach dem Studium geht es weiter. Denn was fängt man an mit einem Diplom in Minnegesang oder Semiotik? Richtig. Man wird Schriftsteller, Lektor oder Kritiker. Und stakst mit dem gleichen dünkelhaften Denken durchs Leben, das sie einem auf der Universität beigebracht haben: Die deutsche Literatur gehört zum Weltkulturerbe.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Deutschen zwei Weltkriege begonnen haben und sechs Millionen Juden umgebracht haben und seither meinen, hoffen, fühlen, dass Bildung das alles irgendwie verhindert hätte. Sie sagten sich nach 1945: Lieber Studienrat als Blockwart - und schufen ein System der Stipendien und Preise, das noch fast jeden Schriftsteller kleingekriegt hat.

Im Grunde ist das die subventionierte Verhinderung von Literatur: Sie treffen sich, sie geben sich Preise, sie schlafen miteinander, sie spucken sich an und schlitzen sich die Stirn auf. So entsteht ein Betrieb, wo sich alle andauernd gegenseitig ihrer Bedeutung versichern.

"Ich sage nur ein Wort: Klagenfurt", das ist mein Lieblingssatz aus einem Buch, das eher, RAF-Zitate kommen nie aus der Mode: Teil des Problems ist als Teil der Lösung. Das Buch heißt "Das kurze Glück der Gegenwart", der Literaturkritiker und studierte Germanist Richard Kämmerlings hat es geschrieben, er fordert in dieser Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1989, dass die Bücher uns die Welt erklären sollen, und betreibt doch nur Freizeitsport für Feuilletonisten.

Der Hü-Hott-Autor

Denn was heißt: Klagenfurt? Doch vor allem die jährliche Hoffnung auf ein Ende der Ödnis und einen sommerlichen Selbstbetrug, der dann auch noch von 3sat live übertragen wird. (Klagenfurt, für die 80 Millionen Deutsche, die nichts mit dem Wort anfangen können, ist ein Lesewettbewerb für Hortensien und andere Topfpflanzen, bei dem vorgeführt wird, wie scharf die Schere der Schrebergärtner ist.)

Das Lustige an dem Buch ist nun zu beobachten, wie Kämmerlings immer wieder den Kopf aus dem Fenster streckt und ihn dann gleich zurückzieht. Er fordert Gegenwart, feiert aber Romane, die die Vergangenheit beschreiben. Er findet Amerikaner wie David Foster Wallace oder Richard Ford toll, muss aber erklären, warum Martin Kluger oder Annett Gröschner wenigstens halb- oder vierteltoll sind. Er streift irgendwie verlegen Christian Kracht, Helmut Krausser und Maxim Biller und lobt dann doch nur "Abfall für alle", ausgerechnet das falsche Buch von Rainald Goetz.

Kämmerlings ist ein Hü-Hott-Autor, ein klassischer Einerseits-Andererseits-Kritiker, der gerne anders wäre, nämlich entschieden - und die Frage ist, warum er Angst hat, die Schriftsteller gut zu finden, die er gut findet. Er formuliert Kriterien und stellt sich damit kurz mal nach draußen - und flüchtet sich doch wieder in den Konsens-Schoß. Er ist Opfer und Täter in einem System, das verhindert, dass die Leute gerade denken - und das in einer Diktatur des Durchschnitts endet.

Leider nun klammert sich gerade das Mittelmaß besonders zäh an seine Macht, weil keiner, der von diesem System profitiert, ein Interesse daran hat, dass sich etwas ändert. Und so werden sie weiter schreiben, veröffentlichen, rezensieren und so tun, als sei das, was sie tun, Literatur. Sie werden weiter gelehrte Metaphern durch die Gegend schieben. Sie werden weiter demonstrieren, dass sie keine Ahnung haben: vom Glück und von der Gegenwart.