Zum Inhalt springen

Bildungsstandards Kultusminister wollen Hauptschulen abkoppeln

Mit nationalen Bildungsstandards haben die Kultusminister auf den Pisa-Schock reagiert. Jetzt wollen sie ausgerechnet die Hauptschulen von Vergleichstests ausnehmen. Begründung: Dort können die Schüler eh nicht mithalten. Kritiker sind entsetzt.

Hamburg - Deutsche Schüler müssen sich an eine weitere Abkürzung gewöhnen: Nach Pisa und Iglu, den internationalen Vergleichen der Schülerleistungen, geht es jetzt um Vera. Das Kürzel steht für Vergleichsarbeiten, mit denen die Länder überprüfen wollen, ob Schüler die nationalen Bildungsstandards erfüllen - Grundschüler wie auch Sechst- und Achtklässler.

Davon allerdings soll es eine Ausnahme geben. Eine große, eine gravierende Ausnahme: Hauptschüler sollen erst einmal außen vor bleiben. In der Kultusministerkonferenz (KMK) wird befürchtet, sie könnten schlicht zu schlecht abschneiden. Darum wollen die Kultusminister die Hauptschulen zumindest für einige Jahre nicht an den Bildungsstandards für allgemeinbildende Schulen messen - und verweisen sie damit auf einen Zuschauerplatz. Die Bildungsbürokratie sagt gewissermaßen: Hauptschüler, ihr seid zu schlecht, um überhaupt teilzunehmen. Setzen, sechs.

Kurz bevor der neue Pisa-Vergleich zwischen den Bundesländern am nächsten Dienstag veröffentlicht wird, beraten am heutigen Donnerstag die Amtschefs der Kultusminister über die Bildungsstandards. Die Minister selbst wollen die Abkopplung der Hauptschulen Anfang Dezember beschließen. Experten und Bildungspolitiker sind entsetzt, weil sie befürchten, dass die Haupt- zu Sonderschulen degradiert werden. Von einem "Hauptschuldesaster" spricht die Bildungsgewerkschaft GEW, von einem "Skandal" die Grünen-Bundestagsabgeordnete Priska Hinz, von einer "bildungspolitischen Geisterfahrt" ihr FDP-Kollege Patrick Meinhardt. Er wirft den Kultusministern vor, die Hauptschulen mit einem solchen Beschluss "aufs Abstellgleis zu schieben" und fragt bündig: "Spinnt die KMK?"

Viele Hauptschüler rechnen auf Grundschulniveau

Nach einem Bericht der Berliner "Tageszeitung" wollen die Kultusminister an Hauptschulen mit den bundesweiten Bildungsstandards bis zum Jahr 2015 pausieren. In einem vertraulichen KMK-Papier, das SPIEGEL ONLINE vorliegt, heißt es: Für die Hauptschulabschluss-Standards wird "die vorgesehene Anbindung an die Lernstandserhebung (Vera 8) ausgesetzt, die ansonsten wie geplant weiterlaufen". Mit "Lernstandserhebung" sind die Vera-Tests in Mathematik und Englisch gemeint, die zeigen sollen, welche Kompetenzstufen die Schüler erreichen.

Die Ergebnisse von Hauptschülern in diesen beiden Fächern sind offenkundig verheerend. Entwickelt wurden die Tests von Bildungsforschern in Zusammenarbeit mit dem Institut für Qualitätssicherung im Bildungswesen (IQB). Vertraulich wandte sich IQB-Chef Olaf Köller an die Kultusminister: Über die Hälfte der Hauptschüler verfehle die Mindeststandards. Dass so viele Hauptschüler in Mathematik scheitern, zeigen einem internen KMK-Papier zufolge auch die Pisa-Ergebnisse und andere Untersuchungen - etwa jeder Vierte erreicht allenfalls Grundschulniveau. Rund 75 Prozent der Hauptschüler schaffen ersten Analysen zufolge auch nicht die geforderten Schreibleistungen im Fach Englisch.

Die Fähigkeit, mathematisch zu argumentieren, zeigen Schüler zum Beispiel anhand von Aufgaben wie: "Welcher der beiden Brüche 2/5 und 4/7 ist kleiner? Kreuze die Antwort mit der richtigen Begründung an." Die Tests basieren auf den groß angekündigten nationalen Bildungsstandards. Darauf hatten sich die Kultusminister vor vier Jahren geeinigt - als Antwort auf den Pisa-Schock. Einheitlich sollte festgelegt werden, was ein Schüler in welcher Klasse und Schulform können muss. Die Standards definieren verschiedene Kompetenzfelder, in Mathematik etwa Problemlösen, Argumentieren und Modellieren.

Test verschoben - auf 2015

Die Tests liegen fertig in der Schublade und müssten nur noch von den Kultusministern abgenickt werden. Eigentlich sollten sie ab 2009 verwendet werden, um alle Schulformen in die Bildungsstandards einzuordnen - inklusive Hauptschule. Das war der Plan.

Im KMK-Papier wird nun jedoch vorgeschlagen, die Tests zu überarbeiten, um "Sein und Sollen" in ein "vertretbares Spannungsverhältnis" zu setzen. Erst 2015 sollen dann auch Hauptschüler getestet werden. Die Beamten entwarfen auch gleich eine Kommunikationsstrategie, um die "Nachnormierung" öffentlich zu begründen: In der jetzigen Form würden die geltenden Bildungsstandards nicht die "dringend notwendigen pädagogischen Impulse" setzen, um Hauptschüler zu fördern. Das Herunterschrauben der Ansprüche soll also als Rücksichtnahme verkauft werden.

Äußern möchte sich dazu in der KMK derzeit niemand. Beraten wird auf der sogenannten Amtsleiterebene, eine Stufe unterhalb der Minister. Auch IQB-Chef Olaf Köller war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Dass die Kultusminister die Bildungsstandards auf die lange Bank schieben wollen, nährt weitere Zweifel an der Zukunft der längst schon umstrittenen Hauptschulen. Der "Taz"-Kommentar dazu: "Das kommt der Bankrotterklärung für eine Schulform gleich, welche die Kultusminister seit der ersten Pisa-Studie vor sieben Jahren zäh verteidigen." Mit einer Absenkung des Niveaus sei niemandem gedient, sagt Marianne Demmer. Die Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW hält die Hauptschule für schlicht überholt; die Reparaturmaßnahmen seien seit 30 Jahren erfolglos.

Auslaufmodell Hauptschule

Wie lange es die Hauptschule überhaupt noch gibt, ist fraglich. Immer weniger Schüler besuchen sie, von den Fünftklässlern bundesweit nicht einmal jeder Fünfte. Selbst in Bayern kommt eine interne CSU-Studie zu dem Schluss, dass die Hauptschulen in der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert werden. Trotzdem will auch die neue Landesregierung eisern daran festhalten.

Viele Bildungsforscher fordern dagegen schon lange den Abschied von der Hauptschule - und einige Bundesländer gehen diesen Weg mittlerweile: So sollen in Hamburg Haupt-, Real- und Gesamtschulen zu Stadtteilschulen verschmelzen, Gymnasien daneben weiterbestehen. Berlin und Schleswig-Holstein richteten erste Gemeinschaftsschulen ein, in Hessen sollen Haupt- und Realschüler von der fünften bis zur siebten Klasse gemeinsam lernen.

Im Saarland gibt es bereits seit zehn Jahren erweiterte Realschulen, die Hauptschüler integrieren. Rheinland-Pfalz setzt auf die "Realschule plus". In Brandenburg gab es seit der Wende erst gar keine Hauptschulen, sondern nur Gymnasien, Gesamt- und Realschulen; ähnlich ist es in den anderen ostdeutschen Ländern.

Bayern und Baden-Württemberg hingegen verteidigen die Hauptschule vehement. Helfen soll dort die Ganztagsbetreuung und die engere Zusammenarbeit mit ausbildenden Firmen. Helmut Rau, Kultusminister in Baden-Württemberg, schimpfte noch vor einem Jahr: "Man hat die Hauptschule systematisch diskreditiert und heruntergeredet." Damals forderte er, man müsse zeigen, welches Potential in der Hauptschule stecke.

Anfang Dezember hat er Gelegenheit dazu: Dann werden er und seine Kollegen von der KMK darüber abstimmen, ob die nationalen Bildungsstandards auch für die Hauptschulen gelten - oder ob man ihr nunmehr amtlich einen Sonderstatus gibt.

Mit Material von dpa und ap