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Finanzpolitik Gefühlte Belastung

Ein Jahr vor der Bundestagswahl überbieten sich die Parteien mit Vorschlägen, Steuern und Abgaben zu senken. Die SPD will Geringverdiener entlasten, die Union auch alle anderen Schichten. Doch den meisten Steuerzahlern geht es heute besser als vor zehn Jahren.
Von Christian Reiermann und Janine Wergin

Es sind Menschen wie Birgit Schulze aus Zarrentin in Mecklenburg-Vorpommern, die der Berliner Regierungskoalition derzeit das Thema vorgeben. "Wir zahlen deutlich mehr Steuern als noch vor einigen Jahren", sagt die Notarangestellte über sich und ihren Mann Andreas.

Auch Jörg Kneschk, Elektromonteur aus Dresden, fühlt sich vom Staat ausgenommen. Die rot-grüne Steuerreform zu Beginn des Jahrzehnts, niedrigere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung? Da kann der 45-jährige Bahn-Angestellte nur lachen. "Auf meinem Konto spüre ich davon nichts." Alles werde teurer, nicht zuletzt wegen der höheren Mehrwertsteuer, und vom Finanzamt habe er auch weniger Geld zurückbekommen als früher. "Wenn der Staat die Entfernungspauschale wieder ab dem ersten Kilometer einführen würde, wäre das schon gut", meint er.

Der Unmut der Steuerzahler ist in der Hauptstadt angekommen. Seit Wochen überbieten sich Politiker aller Parteien mit Vorschlägen, wie sie Bürgern und Unternehmen Linderung verschaffen können. Die CSU will die Pendlerpauschale wiederherstellen, die FDP den Mehrwertsteuersatz auf Benzin, Gas und Strom ermäßigen, die SPD die Sozialbeiträge senken, die CDU Familien entlasten. Die CSU, die sich im Herbst einer Landtagswahl in Bayern stellen muss, hat zudem eine komplette Steuerreform im Angebot, 28 Milliarden Euro Entlastung inklusive.

Die Begründungen für die Rabattschlacht wechseln: Mal müssen hohe Öl- und Gaspreise herhalten, die den Bürgern das Geld aus der Tasche ziehen. Mal sind andere, die Inflation antreibende Faktoren schuld, wie steigende Lebensmittelpreise, an denen der Finanzminister kräftig mitverdient. Noch beteuern Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr zuständiger Minister Peer Steinbrück (SPD), vor der nächsten größeren Steuer- und Abgabensenkung müsse erst der Haushalt saniert werden. Doch der Druck wächst.

Am vergangenen Mittwoch gab die Koalition schon einmal ein wenig nach. Sie beschloss höheres Kindergeld und großzügigere Kinderfreibeträge ab Januar kommenden Jahres. Auch der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung soll weiter sinken. Alles in allem steht den Wählern eine Entlastung von vier Milliarden Euro in Aussicht.

Für die CSU, daraus macht Parteichef Erwin Huber keinen Hehl, ist das nur der Einstieg in eine neue Runde von Steuerreformen und Abgabensenkungen. Nächstes Jahr sind Bundestagswahlen, so kalkuliert er. Da werden sich die anderen Parteien dem Wettrennen um "Mehr netto für alle" kaum entziehen können.

Weniger Steuern und Abgaben sind stets begrüßenswert, wer zahlt schon gern Steuern? Doch ist der Handlungsbedarf tatsächlich so zwingend, wie viele in Berlin und München vorgeben? Wie viel von der zunehmend als drückend empfundenen Steuerlast ist nur gefühlt, wie tief greift der Staat tatsächlich ins Portemonnaie der Bürger?

Im Wettstreit um die Wählergunst drohen Daten und Fakten auf der Strecke zu bleiben. Noch ist die jüngste Steuerreform nicht komplett vergessen, die letzte Stufe trat erst 2005 in Kraft. In drei Schritten entlastete die rot-grüne Bundesregierung Wirtschaft und Verbraucher zwischen 2000 und 2005 um rund 50 Milliarden Euro. "Die größte Steuerreform in der Geschichte der Republik", rühmte der damalige Finanzminister Hans Eichel (SPD) sein Werk.

Im Gegenzug langte der Staat aber immer wieder kräftig zu. Erst wurde die 1999 eingeführte Ökosteuer weiter angehoben, dann die Tabaksteuer und schließlich, zu Beginn vergangenen Jahres, die Mehrwertsteuer erhöht. Allein diese Erhöhung entzog den Konsumenten 2007 20 Milliarden Euro an Kaufkraft. Im Gegenzug senkte die Regierung aber den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung.

Wie die Bürger in den vergangenen Jahren unter dem Strich abgeschnitten haben, zeigen Analysen des Bundesfinanzministeriums sowie Berechnungen, die Steuerberater und ein Wirtschaftsinstitut für den SPIEGEL erstellt haben. Die Experten haben verglichen, wie viel Steuern und Sozialabgaben Gering-, Durchschnitts- und Gutverdiener in den vergangenen Jahren gezahlt haben und wie sie der Staat beim Einkauf an der Ladenkasse, beim Heizen der eigenen vier Wände sowie an den Tankstellen zur Kasse gebeten hat.

Die Ergebnisse fallen überraschend aus.

Wer be- und wer entlastet wurde

Zwar gibt es eine Reihe von Bevölkerungsgruppen, die der Staat in den vergangenen Jahren tatsächlich stärker belastet hat als in der Zeit davor - vor allem jene, die einen großen Teil ihres Einkommens konsumieren. Ein Großteil dürfte heute dennoch weniger Steuern und Abgaben als zur Jahrtausendwende zahlen.

Das verbreitete Gefühl, dass der Aufschwung an den Durchschnittsbürgern vorbeigeht, mag dementsprechend viele Ursachen haben: die steigenden Preise beispielsweise oder stagnierende Löhne. Der Zugriff des Fiskus kann dagegen kaum zur Erklärung dienen. Er ist in den vergangenen Jahren deutlich lockerer geworden. Darauf deuten schon Berechnungen von Finanzminister Steinbrück hin. Seine Fachbeamten haben alle entlastenden und belastenden Maßnahmen aus den Jahren 1999 bis 2007 aufgelistet und gegeneinander aufgerechnet.

In der Zusammenschau finden sich von A wie "Anhebung der Übungsleiterpauschale" aus dem Jahr 1999 bis Z wie "Zunehmende Steuerfreistellung von Arbeitgeberbeiträgen an eine nicht kapitalgedeckte Pensionskasse" aus dem Jahressteuergesetz 2007 alle Steuererhöhungen oder -nachlässe der vergangenen neun Jahre, insgesamt 86 Posten.

Als Gewinner erscheint alles in allem der Bürger, nicht der Staat. Die letzte Zeile des Rechenwerks weist eine Nettoentlastung von 26,705 Milliarden Euro aus. Hinzu kommen noch einmal rund fünf Milliarden Euro, die Unternehmen seit Anfang dieses Jahres weniger an den Fiskus zahlen müssen. Zusammen macht das einen Steuernachlass von insgesamt über 30 Milliarden Euro seit 1999 aus.

"Deutschland ist längst kein Hochsteuerland mehr", findet Steinbrück. Gemessen an international üblichen Vergleichszahlen stimmt das. Die Steuerquote, also der Anteil des Steueraufkommens am Bruttoinlandsprodukt, rangiert mit einem Wert von derzeit 23,7 Prozent im internationalen Vergleich im unteren Drittel - und das schon seit Jahren.

Auch wenn der Anteil der Sozialbeiträge einberechnet wird, erscheint die Belastung nicht übermäßig. Bei der sogenannten Abgabenquote liegt Deutschland im Mittelfeld, im Vergleich zu früher ist sie zuletzt kräftig gesunken. 1999 lag sie noch bei 42,5 Prozent, im vergangenen Jahr bei 40,3 Prozent.

Doch das ist erst die halbe Wahrheit. Das ganze Bild offenbart sich erst, wenn berücksichtigt wird, dass in Deutschland ein vergleichsweise geringer Teil der Bevölkerung berufstätig ist, ein Großteil der staatlichen Finanzlasten aber auf dem Faktor Arbeit liegt.

Die Bürde ist ungleich verteilt. Nur noch etwa die Hälfte der 47 Millionen Haushalte in Deutschland zahlen überhaupt Lohn- und Einkommensteuer. Wer 37.000 Euro verdient, verheiratet ist und zwei Kinder hat, kommt beim Finanzamt ungeschoren davon. Ursache dafür ist das steuerfreie Existenzminimum. Bei Erwachsenen schützt es 7664 Euro vor dem Zugriff des Fiskus, bei Kindern liegen die steuerlichen Freibeträge bei 5808 Euro.

Die Kehrseite der Großzügigkeit: Die andere Hälfte der Haushalte muss das komplette Aufkommen an Lohn- und Einkommensteuer schultern. Und auch in dieser Gruppe gibt es erhebliche Unterschiede. Die oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher zahlen die Hälfte des gesamten Einkommensteueraufkommens.

Wie sich die Lasten in den vergangenen Jahren für Besser- und Niedrigverdiener, für Familien und Singles entwickelt haben, zeigt eine Berechnung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers. Die Resultate sind eindeutig: Alle Einkommensgruppen zahlen unter Berücksichtigung der Geldentwertung derzeit weniger direkte Steuern als vor neun Jahren, gleichgültig, wie der Haushalt zusammengesetzt ist.

Den größten Rabatt bekamen demnach besserverdienende Singles. Der Grund ist einfach: Sie zahlten am meisten Steuern und profitierten deshalb auch am meisten von den Entlastungen. Bei Geringverdienern dagegen warf die Steuerreform im Schnitt eine deutlich kleinere Rendite ab.

Für die meisten Haushalte verringerten sich auch die Sozialabgaben. Wo dies nicht der Fall war, stiegen sie nur um wenige Euro. In keinem einzigen Fall fraßen die höheren Sozialabgaben die Steuersenkungen auf, so dass sich alle Haushaltstypen und Einkommensklassen noch immer besser stellen als vor neun Jahren.

Deutlich wird das auch beim Vergleich der individuellen Abgabenquoten. Dabei werden Steuern und Abgaben ins Verhältnis zum Bruttoeinkommen gesetzt. Die Prozentzahl gibt an, wie viel vom Einkommen Finanzamt und Sozialkassen beanspruchen. Kein Haushaltstyp, gleichgültig welcher Einkommensklasse, kommt schlechter davon als 1999.

Für die abnehmende Abgabenlast war bis zum Jahr 2005 vor allem die Steuerreform der rot-grünen Bundesregierung verantwortlich. Seit 2007 sinken jedoch auch die Sozialabgaben merklich.

So leitete die Bundesregierung einen Teil der Mehrwertsteuererhöhung in die Kassen der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit, um den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung zu senken. Hinzu kam die gute Konjunktur, die Hunderttausende Arbeitslose wieder in Beschäftigung brachte. Entsprechend halbierte sich der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent im Jahr 2006 auf aktuell 3,3 Prozent.

Das Resultat zeigt sich auf den Lohnzetteln der Bürger. "Am Anfang des Jahres hatte ich mehr netto in der Tasche, obwohl sich mein Bruttogehalt im Vergleich zu den Vormonaten nicht geändert hat", stellt Manja Brose, 27, Statistikerin bei einem Pharmakonzern in Konstanz zufrieden fest.

Und das geht schon seit Jahren so. Zunächst sank ihre Steuerlast 2005 um 30 Euro, 2007 sanken ihre Sozialabgaben um 14 Euro monatlich. "Wenn ich mir meine Bezüge anschaue, kann ich nur bedingt nachvollziehen, dass sich die Leute über die Steuer- und Abgabenentwicklung in den vergangenen Jahren beschweren", so Brose.

Ganz anders sehen das Birgit und Andreas Schulze aus Zarrentin. Zwar zahlen die Eheleute weniger Lohnsteuer und geringere Sozialabgaben. Dafür aber traf sie die Kürzung der Pendlerpauschale umso härter. Speditionskaufmann Andreas Schulze muss jeden Tag zu seiner Firma im 52 Kilometer entfernten Witzhave fahren. Seine Frau, die in Schwarzenbek arbeitet, hat einen Arbeitsweg von 45 Kilometern. Entsprechend zahlten die Schulzes im vergangenen Jahr fast 820 Euro mehr.

"Das sind verdeckte Steuererhöhungen", meint Jörg Strötzel, Vorsitzender der Vereinigten Lohnsteuerhilfe. Direkte Steuern und Abgaben seien zwar gesunken, doch im im Gegenzug fielen Steuervergünstigungen weg. Hinzu kommen steigende indirekte Steuern.

Die Auswirkungen dieser Erhöhungen sind schwer zu kalkulieren. Sie hängen davon ab, was und wie viel die Bürger kaufen und welchen Anteil ihres Einkommens sie aufs Sparbuch tragen. Ein lebenslustiger, kettenrauchender Pendler, der den größten Teil seines Einkommens ausgibt, dürfte trotz der Entlastung bei direkten Steuern und Abgaben draufzahlen.

Um Klarheit zu gewinnen, wer sich unter dem Strich als Gewinner oder Verlierer fühlen darf, haben Experten des Karl-Bräuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler die Gesamtbelastung verschiedener Beispiel-Haushalte untersucht: Alleinstehende mit hohem oder durchschnittlichem Verdienst, Familien mit Kindern, Raucher oder Nichtraucher. "Obwohl diese Verwendungsmuster des Einkommens konstruiert sind, ist ihnen eine praktische Bedeutung nicht abzusprechen", sagt Volker Stern, Finanzwissenschaftler beim Karl-Bräuer-Institut. "Sie beschreiben einen Belastungskorridor, in dem sich die meisten Haushalte befinden dürften."

Die Ergebnisse: Single-Haushalte stehen deutlich besser da als früher. Bei Durchschnittsverdienern sank die gesamte Abgabenlast von 53,1 Prozent 1999 auf 50,6 Prozent im Jahr 2008. Steuerzahler, die etwa 50 Prozent über dem Durchschnitt verdienen, konnten sich im selben Zeitraum über eine Abnahme von knapp 65 Prozent auf 63,5 Prozent freuen.

Schlechter stellen sich dagegen Familien. Bei Durchschnittsverdienern mit zwei Kindern etwa, die mit dem Auto zur Arbeit fahren und pro Tag je eine Schachtel Zigaretten rauchen, stieg die Belastungsquote von 48,6 Prozent vor neun Jahren auf jetzt 50,3 Prozent. Grund dafür ist, dass sie einen großen Teil ihres verfügbaren Einkommens konsumieren und darauf Verbrauchsteuern zahlen.

Dennoch zeigen die Vergleichsrechnungen, dass viele Bürger heute weniger Steuern und Abgaben zahlen als noch 1999. Wenn tatsächlich Handlungsbedarf für eine weitere Entlastung besteht, dann vor allem bei Familien. Doch da scheinen alle Parteien problembewusst. Dass der Kinderfreibetrag und das Kindergeld erhöht werden müssen, gehörte zu den wenigen gemeinsamen Beschlüssen der jüngsten Koalitionsrunde.

Selbst Finanzminister Steinbrück hat seinen Widerstand aufgegeben. "Natürlich wird es eine Kindergelderhöhung geben", sagte er kürzlich in kleiner Runde. "Die Frage ist nur, wie hoch sie ausfallen wird."