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Wissenschaftlerstreit Warum Menschen auf allen Vieren laufen

Auf Händen und Füßen bewegen sie sich fort - Familien aus der Türkei, dem Irak, Chile, Iran und Brasilien. Warum sie das tun, darüber streiten jetzt Wissenschaftler. Die einen sehen den Grund in einer genetischen Veränderung, die anderen in veränderten Koordinationszentren im Gehirn.

Im März 2006 berichtete die BBC erstmals über eine kurdische Familie, deren fünf Kinder sich auf Händen und Füßen fortbewegten. Die geistig zurückgebliebenen Geschwister im Alter von damals 18 bis 24 Jahren benutzen zum Laufen ebenso ihre Füße wie ihre Handballen und spreizen dabei die Finger nach oben. Gleich mehrere Wissenschaftler stürzten sich voller Forschergeist auf die Familie: Sind es die Gene, die die Menschen beugen? Ist das Stammhirn schuld, in dem Nervenzellen geschrumpft zu sein scheinen? Welche Rolle spielen die soziale Umgebung und die medizinische Versorgung?

Bis heute sind diese Fragen nicht abschließend geklärt - und die Forscher sind sich uneins und mit Leidenschaft bereit zu einem Gelehrtendisput. Immerhin: Die Wissenschaftler kennen mittlerweile nicht nur mindestens fünf weitere Familien, die auf allen Vieren laufen, sondern auch deren Erbgut. "In der Türkei, im Irak, in Brasilien und Chile leben diese Menschen meist in abgeschiedenen Regionen", erklärt Stefan Mundlos, Direktor des Instituts für medizinische Genetik an der Charité in Berlin. Er ist einer von mehreren internationalen Wissenschaftlern, die sich mit dem Phänomen intensiv beschäftigen.

Bei der ersten Familie aus der Türkei hatte Mundlos eine Mutation auf Chromosom 17 entdeckt. Dass diese Veränderung aber allein für den Vierfüßlergang verantwortlich sein soll, bezweifelt der Arzt. Er hat, ebenso wie ein türkisches Team von der Bilkent Universität in Ankara, vor kurzem bei zwei anderen Familien einen neuen Gendefekt entdeckt. Dabei handelt es sich um eine Mutation des Gens mit dem Namen VLDLR. Das steuert die Herstellung von Fettsäuren, die wiederum wichtig sind für gesunde Nervenzellen.

Mindestens drei verschiedene Defekte

Das türkische Team kam vor kurzem in einem Artikel in der Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences" zu dem Schluss, dass vermutlich die Mutation im VLDLR-Gen schuld am Vierfüßlerlauf der Familien ist. Stefan Mundlos hält dagegen: "Ich kenne neben diesen zwei Familien, die vornüber gebeugt laufen, noch zwei weitere mit demselben Gendefekt. Die gehen aber aufrecht." Gemeinsam mit dem Evolutionspsychologen Nicholas Humphrey von der London School of Economics hat er in "Proceedings" eine Antwort auf die Arbeit der türkischen Forscher veröffentlicht . "Wir sind der Meinung, dass das VLDLR-Gen zwar zu Veränderungen führt", sagt Mundlos. "Die liegen aber im Kleinhirn." Weil dort Bewegungen koordiniert werden, können die Betroffenen schlecht ihre Balance halten, meint Mundlos. "Dass sie sich auf allen Vieren bewegen, ist also nur ein Kompensationsmechanismus, damit sie nicht umkippen." Bei der ersten Familie aus der Türkei wiederum hatten die Wissenschaftler verkümmerte Nervenzellen im Stammhirn gefunden.

Und es gibt noch einen weiteren Anhaltspunkt, der die Forscher zweifeln lässt. Nach der BBC-Sendung bekam Mundlos einen Anruf von einem irakischen Arzt. Der berichtete von einer Familie, die sich ebenfalls auf allen Vieren fortbewegt. Der Mediziner schickte seinem deutschen Kollegen außer Videos und genauen Aufzeichnungen seiner Beobachtungen auch genetisches Material. "Weder auf dem Chromosom 17, noch auf dem VLDLR-Gen trägt diese Familie eine Mutation", so Mundlos. "Es gibt also mindestens drei verschiedene Defekte."

Eine Einigung der Forscher scheint nicht in Sicht. Die beiden Arbeitsgruppen aus der Türkei und Deutschland werden wohl auch in Zukunft nicht näher miteinander kooperieren. "Aber so geht halt Wissenschaft", meint Mundlos. "Man forscht, man diskutiert, man bildet sich seine Meinung. Und oft kann man seine Fragen am Ende doch nicht abschließend beantworten."