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Barrierefrei durch Touchscreens Warum viele Blinde das iPhone lieben

Touchscreens sind eine Offenbarung für viele Sehbehinderte. Als erster Computerhersteller hat das Apple gemerkt und all seine Macs, Macbooks, iPhones und iPods mit geradezu genial einfachen Ideen barrierefrei gemacht. Aber iPhones für Blinde? Wie soll das überhaupt funktionieren?
iPhone: Letztlich versehentlich das ideale Blindenhandy

iPhone: Letztlich versehentlich das ideale Blindenhandy

Foto: Kay Nietfeld/ picture-alliance/ dpa

Marco Zehe kommt heute immer noch ins Schwärmen, wenn er von seiner ersten Begegnung mit einem iPhone erzählt. Das war im Juni 2009, in einem Apple-Laden in Hamburg. Der Computerhersteller hatte gerade das neue iPhone 3GS auf den Markt gebracht: Das erste iPhone mit VoiceOver, einer raffinierten Sprachausgabe-Software für Blinde.

"Als ich VoiceOver zum ersten Mal erlebte, war ich vom genialen Bedienkonzept überwältigt," schwärmt Zehe im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE: "So muss das einfach gemacht werden."

Nach einem ersten iPhone-Testlauf schrieb er in seinem Blog : "Ich bekam hier ein glasklares Gefühl dafür, wie der Bildschirm aufgebaut ist." Warum hatte daran noch niemand gedacht: Dass man mit einem Touchpad und einer Sprachausgabe-Software den Bildschirm förmlich abtasten kann?

Zehe, Jahrgang 73, ist von Geburt an blind. Beim Browser-Hersteller Mozilla arbeitet er als Experte für Barrierefreiheit daran, dass der Firefox-Browser Standards für Barrierefreiheit einhält. Barrierefreiheit ist der Versuch, Computer, Software, Websites so zu gestalten, dass jeder Mensch sie unabhängig von einer eventuell vorhandenen Behinderung uneingeschränkt benutzen kann.

Blinde und Touchscreens? Geht nicht!

Als eine ganz besonders harte Grenze für Sehbehinderte galten bis zum Juni 2009 Touchscreens. Bildschirme, die auch Eingabefeld sind, auf die man direkt mit den Fingern eintippt und Gesten malt, um Programme zu starten oder Funktionen auszuführen.

Bis dahin hieß es immer: Ein Blinder kann keinen Touchscreen benutzen. Smartphones mit ihren Kameras, Navigationssystemen und App-Sammlungen waren für Sehbehinderte eine technologische "No-go-Area". Computerhersteller Apple wusste es besser und installierte VoiceOver einfach auf allen neueren iPods und iPhones.

VoiceOver war bislang nur auf Apples Desktop-Betriebssystem Snow Leopard vorinstalliert: Es liest vor, was auf dem Bildschirm steht, übersetzt Schrifttext in Blindenschrift für Braille-Lesegeräte. Es ist ein typisches Apple-Programm: smart und elegant, mächtig in den Funktionen und trotzdem einfach zu bedienen.

Und VoiceOver ist im Gegensatz zur Konkurrenz kostenlos. Ähnliche Programme kosten 700 Euro aufwärts, vergleichbare Open-Source-Projekte stecken noch in den Kinderschuhen. Vor allem aber ist Apple allen an Benutzerfreundlichkeit voraus.

Während Blinden-Software-Entwickler bisher meist komplexe Software-Monster mit unzähligen Tastaturkürzeln, Skripten und Sonderfunktionen hervorbrachten, ist Apples Konzept geradezu genial einfach. Auf dem iPhone erklärt VoiceOver - mit einer unter Blinden für ihre Präzision und Schnelligkeit beliebten Computerstimme und in 22 Sprachen- über welche App-Icons, Schaltflächen und Textfelder ein forschender Finger gerade streicht: Nachrichten, Wetter, Mail ("Zwei neue Nachrichten"). Ein zweiter Fingertipp startet die Anwendung. Das ist gerade so, als ob man mit den Augen einen bestimmten Bereich des Bildschirms fokussiert.

Blinde im iPhone-Fieber

Das funktioniert auch beim Texte tippen: "Die Quertz-Tastatur auf dem iPad kann ich im Zehnfingersystem schreiben," auf dem iPhone sucht Zehes Lesefinger gleitend die Buchstaben - löst er den Finger vom Touchpad wird der Buchstabe eingegeben. Zwar bevorzugt Zehe noch immer eine echte Tastatur an seinem Mac, aber die Steuermöglichkeiten per Touchpad (seit Oktober 2008 haben alle Mac-Modelle ein Multi-Touchpad) und VoiceOver sind überragend: "Beim Surfen hab ich das Gefühl, dass ich die Website unter den Fingern habe."

Marco Zehe hat viele Blinde und Sehbehinderte mit dem iPhone-Fieber angesteckt. In seinem Blog , auf Twitter  und Flickr  berichtet er von seinen iPhone-Erfolgserlebnissen.

Etwa, wenn das iPhone mal wieder als Augenersatz einspringen muss. Zum Beispiel im April, als da tagelang dieses Hindernis war: Mitten auf dem Feldweg, riesig, unbegreifbar. Zehe machte ein Bild davon, fragte seine Twitter-Follower: "Was steht hier denn rum?" Die antworteten umgehend: "Ein Baucontainer, einfach drumherumgehen."

Es sind Episoden wie diese, die viele Blinde von Smartphones schwärmen lassen: "Apples FaceTime ist eine geniale Sache," sagt Zehe über die Videotelefonie-App des Computerherstellers. "Ich steh an einer Kreuzung und mein Navi kann mir nicht weiterhelfen. Dann ruf ich einfach einen Freund per FaceTime an und zeig ihm die Straßenecke."

Das gleiche Spiel mit dem Ablaufdatum auf dem vergessenen Dosengemüse, dem Kabelwirrwarr beim selbstangeschlossenen Telefon, dem Router-Kennwort, das nur auf der Geräteunterseite abgedruckt ist: "Das hab ich abfotografiert und getwittert: 'Kann mir das jemand übersetzen?'" Eine Minute später war die Übersetzung da. Sogar Videos kann Zehe mit dem iPhone aufnehmen: "Als Blinder kann ich Anfang und Ende eines Films schneiden," erklärt er und schiebt ungläubig nach: "Als Blinder!"

1,2 Millionen Blinde als Anreiz für barrierefreie Software

Auch wenn viele Apps noch alles andere als barrierefrei sind - allein die Spiele! - wächst der Anteil derer, die auch Blinde benutzen können. Das hat zwei Gründe: Erstens sind viele Apps von sich aus relativ barrierefrei, weil VoiceOver  auf viele Standardfunktionen des iPhone-Betriebssystems zurückgreift - etwa das Erkennen von Absätzen, Überschriften, Bildern und anderen "Sweet Spots", wie man sie als sehender iPhone-Nutzer von der Copy/Paste- oder Doppelklick-Zoom-Funktion her kennt.

Zum anderen haben App-Entwickler einen echten Anreiz, barrierefreie Software zu entwickeln: Solche Software hat einen großen Markt. Nach Schätzungen des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands  gibt es in Deutschland circa 1,2 Millionen Blinde und Sehbehinderte. Weil die Gesellschaft altert und mit dem Alter die Augen schwach werden, steigt diese Zahl wahrscheinlich weiter an. Barrierefreiheit ist ein Muss in einer alternden Gesellschaft.

Das hat auch Navi-Hersteller Navigon gemerkt und seine App fürs iPhone um einen Blindenmodus ergänzt, der auch Straßennamen und besondere Orientierungspunkte ausgibt. Zehe hofft, dass das Beispiel Schule macht.

Und vielleicht gibt es ja auch bald die echte Killer-App für Blinde: Eine gut funktionierende Texterkennung für Bilder. Der Anfang ist schon gemacht: Eine spezielle App gibt per Sprache aus, welche Farbe es in der Mitte eines aufgenommenen Fotos erkannt hat. Zehe denkt schon weiter: "Das wäre der Traum: Mit dem iPhone wo draufschießen und der Text wird erkannt." Speisekarten, Straßenschilder, Warnhinweise wären dann nicht mehr außerhalb der Reichweite der Blinden.