Zum Inhalt springen

Böse Buben, kranke Knaben (2) Zuchtstation für dumme Machos

Mädchen haben an den Schulen die Jungen weit überholt. Eine Ursache für die große Krise der kleinen Jungs sehen Kritiker in der Frauendominanz in den Vor- und Grundschulen: Das Schulsystem sei zu einem "jungenfeindlichen Biotop" geworden, die Einführung einer Männerquote für Lehrerkollegien überfällig. Zweiter Teil der SPIEGEL-ONLINE-Serie.
Von Jochen Bölsche

Die Pädagoginnen, die als so genannte Mädchenbeauftragte gegen den "Männlichkeitswahn" streiten, der angeblich an Deutschlands Schulen grassiert, haben ein weites Aufgabenfeld. Eine Checkliste mit dem Titel "Mädchenförderung - Mädchenberücksichtigung", an der sich viele von ihnen orientieren, enthält Dutzende von Prüfaufträgen, darunter:

- "Ist die Zahl der öffentlich gelobten Schüler/innen bekannt?"

- "Bekommen Schülerinnen die gleiche Aufmerksamkeit von Lehrern und Lehrerinnen wie die Schüler?"

- "Gibt es einen extra Computerraum nur für Schülerinnen?"

- "Ausrangierte Schulcomputer werden manchmal an Schüler/innen verkauft. Wird durch die organisatorische Abwicklung gewährleistet, dass der Prozentsatz der Schülerinnen an der Schule mit dem Prozentsatz der Käuferinnen übereinstimmt?"

Rosapapier für Jungen

Die örtlichen Mädchenbeauftragten, berichtet die "Gleichstellungsstelle" im Münchner Rathaus, kämpften "für eine Veränderung des Schulalltags im Interesse der Mädchen" - und zwar "mit großem Erfolg".

Wohl wahr. Exklusiv für Mädchen angebotene "Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungskurse" sind "oft monatelang ausgebucht". Und im Gymnasialunterricht wird auch schon mal "rosa Papier an die Jungen und hellblaues für die Mädchen" ausgegeben, um tradierte Rollenerwartungen zu knacken.

Aus der bewussten Aufwertung der Mädchen resultiere eine "alltägliche Abwertung" der Jungen, hat jedoch der Berliner Pädagogikprofessor Ulf Preuss-Lausitz beobachtet. So beklagen Schulkritiker, jungentypische "Spaßkämpfe", früher als harmlose Rauferei eingestuft, würden heutzutage sogleich "pathologisiert" oder als "Gewaltvorfall" aktenkundig gemacht. Selbst kleine Jungs, die mit ausgestrecktem Zeigefinger "Piff-paff" machten, stünden mit einem Bein in der Erziehungsberatungsstelle oder in der Schulpsychologenpraxis.

Wie sehr sich in den letzten Jahrzehnten das Klima zugunsten der Mädchen gewandelt hat, beschreibt die dreifache Mutter und Buchautorin Karin Jäckel: "In der Praxis erlebt man als Söhne-Mutter, dass Jungen Stricken usw. lernen müssen, Mädchen aber keinesfalls lernen, mit Hammer und Säge umzugehen. Man erlebt auch, dass der Besuch von Selbstverteidigungskursen für Mädchen als etwas Positives gelobt, bei Jungen hingegen als Beweis für Aggressionslust abgewertet wird."

In dieses Bild füge sich, "dass Wildheit bei Mädchen als Temperament bewundert, bei Jungen als Verhaltensstörung kritisiert wird". Und während "Mädchen ihren Lehrerinnen buchstäblich am Hals hängen", würden "Jungen harsch abgewiesen, wenn sie ein Problem nicht ohne Hilfe lösen können".

Dennoch beharren Mädcheninitiativen und Mädchenbeauftragte darauf, weiterhin durch forcierte Mädchenförderung die angeblich anhaltende "Benachteiligung von Schülerinnen im koedukativen Unterricht" (Gleichstellungsstelle) zu bekämpfen. Diese Sichtweise freilich ist spätestens durch die Pisa-Studie ad absurdum geführt worden, die den Mädchen weit überdurchschnittliche schulische Leistungen bescheinigt.

Das alte feministische Dogma, das gemischtgeschlechtliche Bildungswesen der Bundesrepublik sei vor allem für die Jungen von Vorteil, sei als "Mythos" enttarnt worden, urteilt die "Zeit". Nunmehr gelte: "Mädchen sind eindeutig die Gewinner des Schulsystems."

Gespenstische Debatte über Koedukation

Als gespenstisch mutet im Nachhinein die jahrelange Debatte an, ob die Koedukation nicht besser abgeschafft werden sollte, weil sie den Mädchen schade. Neueste Studien wecken selbst bei Feministinnen Zweifel am emanzipatorischen Nutzen reiner Mädchenschulen. So verfügt die American Association of University Women über "keine Belege" dafür, "dass die getrennte Erziehung besser ist als die gemeinsame".

Zwar liegen Mädchen in Deutschland in Mathematik und Naturwissenschaften noch immer (knapp) hinter den Jungen. Doch dieses Defizit, ergab eine Untersuchung der Universität Marburg, sei keineswegs durch die Koedukation bedingt; es lasse sich auch in Mädchenklassen registrieren.

Mittlerweile nähren immer mehr Befunde den Verdacht, dass geschlechtergemischte Klassen nicht die Mädchen benachteiligen, sondern, ganz im Gegenteil, die Jungen. So werden Schülerinnen nach einer Langzeitstudie der Berliner Humboldt-Universität signifikant häufiger als Schüler für den Übergang zum Gymnasium vorgeschlagen.

Schüler sind Lesemuffel

An reinen Jungenschulen, zeigt eine weitere Studie, lernen die Jungen besser und lieber als in Koedukationsklassen. In Abwesenheit von Mädchen, berichtet der Hamburger Pädagogikprofessor Peter Struck, demonstrierten Knaben deutlich weniger Macho-Gehabe als sonst. "Eigentlich", folgert Struck, "müssten die Jungen vor der totalen Koedukation geschützt werden".

Das Schulversagen der Knaben hat offenbar eine Reihe von Ursachen. Auf den ersten Blick mangelt es ihnen vor allem an "Lese- und Sprachkompetenz", die nach Ansicht der Pisa-Koordinatoren "unbestreitbar eine Schlüsselqualifikation" darstellt - kein Wunder: Schüler sind Lesemuffel.

Drei von vier 15-jährigen Mädchen, aber nur die Hälfte der gleichaltrigen Jungen geben an, freiwillig zu einem Buch zu greifen. Die "geschlechterspezifischen Leistungsdifferenzen" bei der Lesekompetenz seien so massiv, urteilt die renommierte "Zeitschrift für Erziehungswissenschaft", dass "dringender politischer Handlungsbedarf" zugunsten der Jungen bestehe - zumal die Deutschnote "bei der Gymnasialempfehlung eine hervorragende Rolle spielt".

Doch wahrscheinlich ist das Schulversagen der Buben auch noch auf viel tiefer liegende Gründe zurückzuführen. Erörtert werden solche Faktoren bereits seit Jahren im Ausland, vor allem in den USA und in der Schweiz.

Krise des Knabenalters

Nach einer Serie von Amokläufen wie dem Blutbad in der US-Stadt Littleton, die ausschließlich von Jungen begangen worden waren, befiel den Harvard-Psychiater und Bestsellerautor William Pollock eine schlimme Ahnung: Diese Verbrechen seien "nur die Spitze des Eisbergs, und der Eisberg besteht ganz aus Jungen". Pollock: "Wir haben es mit einer großen nationalen Krise des Knabenalters in Amerika zu tun."

Die Gesellschaft habe sich allzu lange ausschließlich mit den Schwierigkeiten befasst, die Mädchen zu schaffen machten, analysiert der Washingtoner Psychotherapeut Michael Gurian. Das weibliche Verhalten sei zur Norm erklärt und das der Jungen an diesem Maßstab gemessen worden. Erst jetzt würden die Folgen dieser Praxis bemerkt: "Vor ein paar Jahren war es noch nicht politisch korrekt, auf Jungen acht zu geben... Unsere Kultur ist in dieser Frage gerade erst aufgewacht."

Aufgeweckt zeigt sich auch die Schweiz, wo der Diskurs übers Knabenversagen in der "Neuen Zürcher Zeitung" geführt wird. Aus dem Kampf um eine "mädchengerechtere Schule" sei mittlerweile ein Bildungswesen hervorgegangen, das "nicht knabengerecht" sei, argumentieren dort die Pädagogen Ronald Halbright und Lu Decurtins. Die Schulen, meint auch der Zürcher Psychologe Allan Guggenbühl, hätten sich "schleichend zu einem Biotop entwickelt, das den Bedürfnissen der Knaben kaum mehr gerecht wird".

Erst allmählich setzt sich in Deutschland die Einsicht durch, dass Jungen und Mädchen beispielsweise "unterschiedlichen Zugang zu Naturwissenschaften und Mathematik finden", wie der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm konstatiert: "Darauf müssten die Lehrer eingehen. Diese Fähigkeit den Lehrern zu vermitteln, wäre Aufgabe der Fachdidaktik."

Feminisierung der Pädagogik

Die Lehrer - das sind heutzutage allerdings durchweg Lehrerinnen, zumindest an der Grundschule. In der zunehmenden "Feminisierung der Pädagogik" (Schulkritiker Guggenbühl) sehen mittlerweile auch frauenpolitisch engagierte Politikerinnen ein Problem.

"Der Lehrerberuf wird immer mehr zu einem Frauenberuf," klagt die sozialdemokratische Kieler Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave: "Pädagogisch ist das nicht wünschenswert." An den schleswig-holsteinischen Grundschulen ist das Lehrpersonal bereits zu 86 Prozent weiblich (Bundesdurchschnitt: 83 Prozent).

"Nach rund zwanzig Jahren Mädchenpädagogik" sei es nun an der Zeit, glaubt der Berliner Sozialpädagoge Wolfgang Tietze, die Frage zu erörtern: "Was bedeutet es eigentlich, dass Jungen wie Mädchen in unserer Gesellschaft fast nur von Frauen erzogen werden?"

Mädchenschule für Jungen

An Schulen, an denen es - nicht selten - nur einen einzigen Lehrer gibt, umschwirren Kinder das Mannsbild auf dem Schulhof bisweilen "wie Motten das Licht", wie der Bremer Schulpsychologe Walter Rukita beobachtet hat: "Die wollen wissen, wie sich ein Mann verhält."

"Die Grundschule ist letztlich eine Mädchenschule", kritisiert Peter Heyer, Vorsitzender des Berliner Grundschulverbands. Der Lehrkörper sei immer weiblicher geworden - und obendrein überaltert: "Unsere Grundschulkinder werden heute hauptsächlich von Großmüttern erzogen."

Potenziert werden die Folgen des Männermangels an den Schulen noch durch das Frauenmonopol in den Kindergärten und, vor allem, durch den familiären Wandel: Weil mittlerweile in jeder sechsten Familie die Mutter allein erzieht, werden immer mehr Jungen ohne jede männliche Bezugsperson groß; die Zahl der Kinder, die zu Hause ohne Vater aufwachsen, hat sich in den letzten Jahrzehnten vervierfacht - mit gewaltigen, teils auch gewalttätigen Folgen für den Schulalltag.

Suche nach Männlichkeit

"Jungen, die auf der Suche nach Männlichkeit sind, aber ohne Vater aufwachsen, werden eher gewalttätig, wie Studien immer wieder ergeben", referiert Bildungsforscher Struck. Vaterlos aufwachsende Knaben neigten zudem öfter zu Depressionen, Antriebsschwäche und Leistungsdefiziten.

"Deshalb," folgert Struck, "brauchen wir wohl eine Quotenregelung beim Personal von Kindergärten und Grundschulen, damit mehr liebevolle Väterlichkeit in die Nähe kleiner Jungen gerät; deshalb müssen wir allein erziehenden Müttern bewusst machen, dass sie dafür sorgen sollten, dass auch Männer im Leben ihrer Söhne vorkommen."

Denn: "Wenn Jungen nur mit einer Mutter und vielleicht noch mit einer Schwester und einer Großmutter sowie mit einer Kindergärtnerin und nacheinander mit drei Klassenlehrerinnen aufwachsen, die alle sehr gut waren und sind, dann entwickeln sie sich dennoch oft sehr defizitär."

Ähnliches glaubt die Berliner Publizistin und Feminismuskritikerin Katharina Rutschky bemerkt zu haben: "Jungen ohne männliche Vorbilder und Bezugspersonen mausern sich in der Defensive zu so dummen Machos, wie man sie noch nicht gesehen hat."

Fifty-fifty im Kollegium

Praktikerinnen wie die Frankfurter Grundschullehrerin Ursula Kerntke ("Es sind die Jungen, die Extra-Aufmerksamkeit benötigen") teilen die Forderung nach mehr Männern in den Kollegien. In der "Frankfurter Rundschau" postulierte die Pädagogin: "Fünfzig Prozent Jungen brauchen fünfzig Prozent Lehrer."

Der Wunsch ist vorerst freilich kaum umzusetzen. Denn im Pädagogikstudium sind Studentinnen - die Lehrkräfte von morgen - gleichfalls stark überrepräsentiert. Während dem Frauenmangel an den naturwissenschaftlichen Fakultäten seit Jahren mit speziellen Technik- und Informatiktagen für Mädchen begegnet wird, lassen entsprechende Sonderveranstaltungen, auf denen Jungen für Pädagogik-Berufe begeistert werden könnten, auf sich warten.

Besondere Probleme bereitet der Mangel an männlichen Leitfiguren in den Kollegien offenbar vor allem Söhnen aus Migrantenfamilien. Sie weigern sich häufig, Lehrerinnen ernst zu nehmen, weil ihnen von autoritären Vätern die eisernen Regeln des Machismo eingebläut worden sind: "Sei kein Kind mehr", "Sei keine Frau", "Lass dich nicht von Frauen dominieren". Wer sich nicht daran halte, werde "als Frau beziehungsweise Schwächling" verspottet, weiß Ahmet Toprak, Erzieher bei der Münchner Arbeiterwohlfahrt.

Anatolische Machokultur

Wer hingegen den altväterlichen Vorgaben folgt, treibt die dauergestressten Pädagoginnen nicht selten an den Rand des Nervenzusammenbruchs - so etwa, wenn der kleine Abdullah, wie die Ex-Lehrerin und Buchautorin Marga Bayerwaltes ("Große Pause") berichtet, sich im Unterricht strikt weigert, auf einem Stuhl Platz zu nehmen, auf dem zuvor ein Mädchen gesessen hat.

Auf den Konflikt zwischen patriarchalischen Traditionen und pädagogischem Weiberkram reagiert manch ein Migrantensohn mit permanenten Störmanövern oder mit Schulschwänzerei. "Den Türken fällt es schwer, sich von einer anatolischen Machokultur auf ein feminisiertes Westeuropa umzustellen", urteilt der hannoversche Kriminologe und Justizminister Christian Pfeiffer.

Ungebildet und bewaffnet

Das Problem verschärft sich in demselben Maße, in dem sich die Knaben im Unterricht und im Berufsleben von den Mädchen überholt sehen.

Die Verlierer - keineswegs ausschließlich aus Migantenfamilien, sondern auch aus der deutschen Unterschicht - kompensieren ihre Defizite, so Struck, durch die Demonstration von Stärke: "Sie machen mit Glatzen, Kampfhunden oder PS-starken Autos auf sich aufmerksam."

Schon um diesen Trend zu bremsen, gehöre die Jungenpädagogik verstärkt auf die Tagesordnung. "Wir müssen uns um die Jungen sorgen," mahnt der US-Psychiater Pollock, der sich selber als "pro-feministisch" bezeichnet: "Ich glaube nicht, dass es irgend jemandem nutzt, wenn die Frauen zwar an die Macht kommen, andererseits aber die Männer und damit fünfzig Prozent der Bevölkerung ungebildet und bewaffnet in der Gegend umherirren."

Folge 3: Mann, sind die Sterne geil
Folge 1: Böse Buben, kranke Knaben

Verwandte Artikel